


Die Wächter
„Erzähl mir von der alten Welt, Vater. Ich möchte alles erfahren, kennenlernen und begreifen.“
„Ich weiss nicht, ob ich dir das zumuten kann, mein Sohn. Denn vieles davon ist grässlich und grausam und wird dein Herz vielleicht in tausend Stücke zerschmettern. Wenn du begreifst, dass all deine Illusionen, deine Wünsche und Hoffnungen zunichte gemacht werden.
Aber nun gut. Ich werde dir erzählen, wie es damals war. Damals als das Schicksal besiegelt wurde.
Da war einmal die Natur. Die einst so satten, grünen Wiesen waren nur noch Brachland, das braun, verdorrt und elend die Erde langsam aber sicher mit Schmutz überzog.
Die Bäume trugen keine Blüten mehr, sie brachten nur noch winzige, rostbraune Knospen hervor, die verblühten, sobald sie den ersten Schrei der Verzweiflung gehört hatten.
Auch die kristallklaren Flüsse und Bäche waren schon lange Vergangenheit. Sie waren nur noch ein leises Gerücht. Man konnte sich nur noch erzählen lassen, wie sie ausgesehen hatte, während man in die zähflüssige, braune Masse starrte, die einmal klares Wasser gewesen war.
Abgemagert und ausgehungert existierten auch die Tiere nur so gut es eben noch ging. Sie liefen zwischen Schmutz, alten Knochen und Düsternis apathisch von Elend zu Elend.
Und dann war da noch der Mensch. Rücksichtslos und egoistisch kämpfte er sich durch dieses Durcheinander, das man einmal als intakte Welt bezeichnet hatte. Der Mensch hatte schon lange aufgehört zu weinen oder überhaupt Gefühle zu zeigen.“
„Aber Vater, wie kam es, dass diese Welt schliesslich dem Untergang geweiht war?“
„Das ist eine gute Frage, mein Sohn. Wenn ich ehrlich sein soll, weiss das keiner so recht. Aber ich glaube, dass es jemanden gibt, der auf alles, was geschah, jetzt gerade passiert und noch sein wird, ein Auge hat. Dessen Herz, so erzählt man sich, sei aus Glas, so zerbrechlich - und wie ein Kunstwerk, das man mit Respekt und Vorsicht bestaunen muss.
Ich glaube, dass er all dieses Elend, diesen Hass und diese Abscheu nicht mehr ertragen konnte; und so sein Herz in tausend Teile zersplitterte.“
„Dann ist die Erde also aus diesem Grund zerstört worden?“
„Ja, ich vermute, dass es so ist. Aber ich bin mir sicher, dass das uns nicht noch einmal passieren kann. Schau dich nur einmal um. Die Pflanzen blühen in allen Farben und strahlen die Welt mit ihren funkelnden Knospen an.
Die satten grünen Wälder spiegeln sich in den glasklaren Seen wieder und hoch oben in den Bergen glänzt der Schnee, wie tausend Diamanten.
Wir Menschen haben viel gelernt. Wir gönnen anderen ihr Glück, sind nicht mehr habgierig und haben Respekt vor der Natur. Wenn jemand Hilfe benötigt, sind wir zur Stelle und probieren ihn aus dem dicken Schlick zu befreien und ihm den Schmutz von der Seele zu waschen.
Wir schauen anderen ins Herz und nicht ins Gesicht. Tieren treten wir mit Respekt gegenüber.
Natürlich ist bei uns nicht alles perfekt, aber wir arbeiten hart daran, dass dieser Planet ein Ort der Ruhe und der Geborgenheit bleibt.“
„Vater, ich habe noch eine letzte Frage. Was siehst du, wenn du in mein Herz schaust?“
„ Ich sehe ein Licht, das wärmt, Kraft gibt und einem in dunklen Stunden den Weg weist. Das nie erlischt und immer da ist, wenn man es braucht.
Ich sehe einen Jungen, der einfach nur das ist, was jeder sein sollte: offenherzig und selbstlos.
Wären die Herzen der Menschen früher schon so rein gewesen wie dein Herz, dann sässen wir jetzt nicht hier.
Weisst du was? Wir würden immer noch dort oben stehen und alles beobachten, was hier unten so vor sich geht!“