
Weise Worte
Es war einmal ein alter Mann. Jeder in unserem kleinen verschlafenen Dorf hielt ihn für einen Spinner. Ein Beknackter, der einst in einer dunklen Nacht im Schatten der Verzweiflung aufgetaucht war und seitdem immer und überall sein Unwesen trieb. Jeder mied ihn - ausser ich.
Als ich ihm zum ersten Mal begegnet war, teilte ich die Meinung der anderen noch. Doch mit der Zeit, als ich ihn immer öfters einsam und traurig durch die Strassen wandern sah, tat er mir leid und ich wollte mich mit ihm unterhalten, seine Lebensgeschichte erfahren und sein wahres Ich kennenlernen.
An einem warmen Sommertag setzte ich mich auf eine morsche Bank, nahe dem See und wartete, bis der alte Mann vorbeikam.
Als er bei mir ankam und sich neben mich setzte fragte er mich schliesslich langsam und schwer atmend:“ Was siehst du, wenn du dich in der Welt umschaust?“
Ohne nachzudenken antwortete ich:“ Ich sehe die Natur, Menschen und Tiere. Sehe Berge, Seen und Hügel-“
„Nein“, schrie der Mann und erschreckte mich fast zu Tode.
Etwas sanfter fuhr er fort:“ Du siehst nichts, absolut nichts. Denn eigentlich nimmst du nichts wahr. Berge sind nicht einfach nur Steinbrocken. Es sind lebende Giganten mit weissen Gipfeln und gefährlichen Schluchten und steilen Graten.
Die Natur ist nicht einfach nur hübsch anzusehen und da, um uns zu erfreuen. Sie ist der Grund, warum wir überhaupt atmen, lachen und glücklich sein können.
Und Menschen sind nicht einfach nur Lebewesen. Sie sind lebende Skulpturen, die wir bewundern und beschützen müssen. Denn jeder von Ihnen ist so zerbrechlich und einzigartig. Wir müssen uns Zeit nehmen, jeden Menschen richtig kennen zu lernen und dürfen nicht vorschnell über ihn urteilen. Wir müssen verstehen...
Das Leben besteht aus Wahrnehmungen, mein Junge. Sind wir fähig, diese in Gefühle umzuwandeln und in unser Herz zu lassen, dann wird das Leben interessant und wir geben der Natur, wie auch den Menschen etwas zurück.
Gelingt es uns jedoch nicht, bleiben wir abgestumpft und oberflächlich, bis der lange Weg zu Ende sein wird.“
Langsam stand der alte Mann auf und ging davon.
Ich habe ihn nie wieder gesehen. Seine Worte aber, die habe ich nie mehr vergessen.